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DAS NEUE WIESBADEN

Staatstheater Wiesbaden / Schelmengraben

2014, 2015, 2016

„Es gehört selbst zu meinem Glücke, kein Hausbesitzer zu sein’, schrieb Nietzsche bereits in der Fröhlichen Wissenschaft. Dem müßte man heute hinzufügen: es gehört zur Moral, nicht bei sich selber zu Hause zu sein.“

Theodor W. Adorno

„Wir sind der Meinung, dass das kollektive Moment im Leben der heutigen Menschen, das sich in Arbeit, Sport und Politik so stark ausprägt, sich logischerweise auch in den Wohnzellen der Menschen widerspiegeln muss.“

Ernst May

Die Zwofadolei* ist ein Zweifamilienhaus mit Doppelleitung, das der Frankfurter Bauhausarchitekt und Städteplaner Ernst May 1926 zu Anschauungszwecken für die internationale Architekturtagung für neues Bauen entworfen und gebaut hat. In diesem Musterhaus sah er die Lösung für die europaweit drängenden Fragen des Städtebaus und der Unterbringung von Menschen am sogenannten Existenzminimum.

Für May war die Rationalisierung, Standardisierung des Wohnens und Vereinfachung der Arbeitsvorgänge Voraussetzung für soziale Veränderungen und der Grundbaustein für eine neue Ära der Gemeinsamkeit und Menschlichkeit.

1963 veröffentlichte er seine städtebaulichen Pläne für ein „neues Wiesbaden“, nach welcher ein Großteil aller Altbauten und Jugendstilvillen abgerissen und durch moderne Wohnblöcke und Reihenhäuser ersetzt werden sollte. Das von Bürgerinitiativen verhinderte Projekt wurde dann nur noch am Stadtrand Wiesbadens umgesetzt. Die Gebäude werden heute von der Gewerkschaft für Hessisches Wohnen verwalten und als Sozialwohnungen verwendet.

Eleonora Herder und ihr Team haben die Bewohner*innen von Schelmengraben besucht und mit Ihnen über ihre Alltag und ihre Vorstellung von Wohnen gesprochen. Ist Mays Plan aufgegangen? Gibt es ihn, den neuen Wiesbadener? Lebt er vielleicht ganz leise und unbemerkt am Stadtrand dieser schnörkeligen Stadt?

Thema dieser Performanceinstallation ist die Frage inwiefern Menschen durch Städteplanung und Architektur im zwanzigsten Jahrhundert geformt wurden.

Wie weit sich Diskurse, Geschichte und Politik einer Zeit und einer Stadt in ihrer Städteplanung widerspiegelt und was die Menschen heute davon noch in sich tragen. Wirken die architektonischen Setzungen von damals wie eine gespenstische Utopie in den Bewohner*innen von heute fort?

Eine Produktion des Staatstheater Wiesbaden.
Diese Produktion hat die Postgraduiertenförderung der Hessischen Theaterakademie erhalten.

„Augmented Reality“ bedeutet übersetzt „Angereicherte Realität“ und ist ein Forschungsansatz der Informatik, der versucht, eine Be-, Über- und Umschreibung der „Realität“ durch digitale audiovisuelle Medien zu ermöglichen. Dabei werden ein Gegen- stand, ein Gebäude oder ein Standort mit der Kamera eingescannt und das gefilmte Livebild mit einem für diesen Standort und diese Perspektive vorproduzierten animierten Bild überlagert, um so eine Erweiterung der eigenen Realität, aber auch eine Überlagerung von Zeiten und Orten innerhalb des eigenen Zeitraums zu ermöglichen.

In einem Projekt mit einem theatralen Fokus könnten die angereicherten Realitäten zu Mini-Bühnenräumen werden, die über der haptischen Realität hängen wie Heiligenscheine. Es könnte eine Narration stattfinden, die in einem Miteinander oder Wechselspiel von Illudierung und Partizipation entsteht.
Kann das Medium zur visuellen und akustischen Subversion von Orten und Personen dienen? Oder ermöglicht es einfach nur eine größere Erfahrbarkeit von etwas oder jemandem, der mal da war? Begeben wir uns mit einem solchen Medium auf die Spur von Gespenstern? Oder geben wir einen Ausblick auf mögliche Zukünfte, vielleicht eine Utopie?

Alle angefertigten Orte und Gebrauchsgegenstände, mit denen wir alltäglich in Berührung kommen, sind mit einer Utopie behaftet. Jemand hat sich irgendwann einmal eine mehr oder weniger konkrete, mehr oder weniger ideologische Gebrauchsbestimmung für sie ausgedacht. Sie erzählen also nicht nur von ihrer tatsächlichen Nutzungsgeschichte, sondern auch davon, wie oder was wir als Nutzer*innen eigentlich sein sollten. Diese Zukunft der Vergangenheit hängt unsichtbar auratisch über allem, was uns umgibt.

Auf der Suche nach Utopien des Alltags sind wir schnell auf „Das Neue Frankfurt“ gestoßen. Diese Siedlungspolitik, die in den 1920er Jahren von dem Architekten und Städteplaner Ernst May für Frankfurt entwickelt wurde, strebte nicht nur eine architektonische Weiterentwicklung der Stadt an, sondern eine Sozialisierung der gesamten Gesellschaft. Über die Gebäude und die damit einhergehende Strukturierung des privaten Lebens sollte ein neuer Mensch entstehen, der eine neue Ära von Einheit und Kollektivität anstrebt.

Wir wollten nun also Augmented Reality nutzen, um implizite „Schichten“ unserer Umgebung sichtbar zu machen: Wie weit spiegeln sich Diskurse, Geschichte und Politik einer Zeit und einer Stadt in ihrer Städteplanung wider, und was tragen die Menschen heute davon noch in sich? Wirken die architektonischen Setzungen von damals wie eine gespenstische Utopie in den Bewohner/innen von heute fort? Diese Fragestellung wollten wir empirisch angehen, indem wir die heutigen Bewohner/innen von Ernst-May-Häusern besuchen wollten, um sie zu ihrer Wohnsituation zu interviewen und Bewegungsabläufe in ihren Wohnungen filmisch zu dokumentieren.

Wenn Augmented Reality bis jetzt hauptsächlich dazu dient, Realität mit utopischen/fiktionalen Elementen anzureichern, wollten wir den Spieß umdrehen und die Utopie mit Realität anreichern. So als wäre die heutige Realität eine Art Vorahnung, eine Zukunftsvision, die über der Utopie von damals schwebte.

Ein Architekturmodell, so schien uns, war die Manifestierung von unbefleckter Utopie in einer haptischen Realität.

(Eleonora Herder)

Konzept und Leitung: Eleonora Herder

Dramaturgie: Anna Schewelew

Bühnenbild: Sabine Born

Bühnenbildassistenz: Lucia Bushart

Performance: Eleonora Herder, Maria Isabel Hagen & Sabine Born

Videodesign: Alla Poppersoni

Interface: Zentralwerkstatt / Fabian Offert

Sounddesign: Jan Mech

28.06. 2015 ab 12:00h im Rahmen der “Hessischen Theatertage” am Staatstheater Wiesbaden.

13.10.2015 ab 18:00h Kino Naxos. “Kino im Theater”

11.11.2016 – 18.11.2016 als Dauerinstallation im Rathaus Wiesbaden. Im Rahmen von “Wir in Wiesbaden.”

19.11.2016 – 25.11.206 als Dauerinstallation im Stadtteilzentrum Schelmengraben, in Wiesbaden.

Teaser Video:

https://vimeo.com/131591800

Dokumentation Performance:

Dokumentation Dauerinstallation:

„Die Frankfurt Künstlerin Eleonora Herder, die Bühnenbildnerin Sabine Born, die Prgrammierin Alla Poppersoni und ein Team von Sozialarbeitern der Kulturinitiative Schelmengraben Bunt haben diese Ausstellung die bereits in anderen Städten zu sehen war, auf lokale Gegebenheiten angepasst. Der Effekt ist verblüffend, doch sollte man Zeit und Konzentration mitbringen.“

(Anja Baumgart Pietsch: „Alltag in Ernst Mays Hochhaus“, Wiesbadener Kurier, 16.11.2016)

“Die meisten Wiesbadener übrigens dürften auch nicht wissen, was eine Zwofadolei ist. Der berühmte Architekt Ernst May hatte das „Zweifamilienhaus mit Doppelleitung“, also eine „Zwofadolei“, in den zwanziger Jahren entworfen. Dass es sie nicht nur im „Neuen Frankfurt“ gibt, sondern auch in Wiesbaden, weit weg vom historischen Zentrum, am Schelmengraben in Dotzheim, hat Eleonora Herder mit Maria Isabel Hagen und Sabine Born zu einer Performance bewegt, mit der sie Bewohner des heutigen Schelmengrabens, die Thesen Mays und das Publikum vor einem hübschen Doppelhausmodell zusammenbringen.“

(Eva Maria Magel: „Stücke auf dem Silbertablett. Die Hessischen Theatertage zeigen, was hiesige Bühnen können“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. Juni 2015)