LULU. To all our lovers.
Stadtraum, Gießen
Juli 2011
”Sieh mich an.”
“Was wollen Sie sehen?”
“Deine Augen … sieh mir in’s Auge.”
“Ich sehe mich darin. … Ich muss mich umziehen.”
(Frank Wedekind)
Wo die Bestätigung der eigenen Person als sinnvoller Teil einer Gemeinschaft ausbleibt oder für Selbstverwirklichungspläne unzureichend ist, da muss sie auf andere Weise erfolgen…
Lulu ist weg. Schon seit einer Weile hat sie niemand mehr gesehen. Die Geschwitz lädt zum Abendessen in ihrer neuen Wohnung. Ein Altbau irgendwo in Gießen. Zu Gast sind ehemalige, aktuelle und potentielle Liebhaber von Lulu. Ein warmer Sommerabend. Eine gelungene Feier: Es wird getanzt, gelacht, geweint, bestochen, belogen und bedroht. Es wird gekämpft um die wenigen verbleibenden Blicke und um den eigenen Platz in einer Welt, in der alle nur als sie selbst und für ihre Attribute begehrt werden wollen. Es wird – letztendlich – erotisch.
Zur Party wurdest Du nicht eingeladen, aber ohne Dich ergibt das alles keinen Sinn. Du darfst also zusehen, wenn Du willst.
Bisherige Aufführungen: 23. & 24.07. sowie 28. bis 31.07.2011, jew. 19:30 Uhr sowie Zusatzvorstellungen 28. bis 30.07., jew. 24:00 Uhr
Ort: Ludwigstr. 28 in Gießen
Eintritt: 7 € / 4 € ermäßigt
Mit: Arne Köhler, Christoph Bovermann, Fabian Passarelli, Falk Rößler, Maria-Isabel Hagen & Nick-Julian Lehmann
Idee: Eleonora Herder
Regie: Eleonora Herder & Falk Rößler
Dramaturgie: Michaela Stolte
Bühnenbild: Sabine Born
Musik & Sounddesign: Falk Rößler & Arne Köhler
Produktion: Isabelle Zinsmaier
Technische Mitarbeit: Jost von Harleßem
Gefördert durch:
Hessische Theaterakademie
AStA der JLU Gießen
hessische Film- und Medienakademie
Zentrum für Medien und Interaktivität Gießen
Institut für Angewandte Theaterwissenschaft Gießen
Unsere Föderer auf www.startnext.de/lulu
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Stell Dir folgende Situation vor: Später Abend. Du sitzt an einem
Fenster. In eine Wohnung gegenüber hast du über deren Fenster Einblicke
in drei Räume: das Schlafzimmer, das Esszimmer, das Bad. In der
besagten Wohnung findet ein Diner statt, Gäste sind geladen, es gibt
gutes Essen und jede Menge Intrigen. Unten auf der Straße befinden sich
hin und wieder einige der Gäste.
Manche von ihnen betreten vielleicht sogar dein Haus und sprechen
plötzlich im Raum neben dir miteinander. Du beobachtest all das aus
deiner Wohnung. Wir, die Menschen aus dem Haus gegenüber, folgen dem
Lauf einer Geschichte. Du schaust und hörst uns dabei zu. Und plötzlich
merkst Du: Nicht nur Du beobachtest. Plötzlich wenden wir uns an dich,
adressieren Dich ganz direkt, inszenieren uns nur für Dich. Plötzlich
bist nicht mehr Du pervers, sondern wir sind es. Und wir missbrauchen
Dich aufs Übelste – weil wir deine Blicke brauchen.
Und dann, bevor du es merkst, dreht sich unser erotisches Spiel noch
einmal. Du wirst Dir deiner Macht bewusst. Du lässt uns zappeln. Du
erfreust dich an unserer Ungeduld. Du lässt uns lechzen…
Materialvorlage für unsere Arbeit ist Frank Wedekinds Doppeldrama
„Lulu“, bestehend aus den beiden Teilen „Erdgeist“ und „Die Büchse der
Pandora“.
Wir gehen frei mit diesen Stoff um, an dem uns vor allem die Figur der
Lulu mit ihrer radikalen Selbstinszenierung sowie die Bemühungen der
anderen Charaktere, dieses Wesen zu fassen und seiner habhaft zu werden,
interessieren.
Es geht uns darum, die Figur Lulu als postmodernen Zustand zu verstehen;
als Zustand einer Gesellschaft, die sich als Gemeinschaft weitestgehend
aufgibt. Stattdessen bringt diese Gesellschaft Individuen hervor, die
sich selbst unablässig als begehrenswerte und Intimität versprechende
Übermenschen inszenieren und vermarkten.
Lulu ist postmodern, weil sie weiß, dass sie beobachtet wird und
gleichzeitig weiß, dass dieser Blick sie definiert. Lulu ist eben nicht
(wie mehrfach behauptet wurde) ein naives, ‚natürliches’ Wesen, das die
vermeintlich ursprüngliche Weiblichkeit auslebt. Lulu ist eine Meisterin
der „Beobachtung zweiter Ordnung“, weil sie beobachtet, wie andere sie
beobachten und ihr Verhalten danach ausrichtet.
Wo die Bestätigung der eigenen Person als sinnvoller Teil einer
Gemeinschaft ausbleibt oder für Selbstverwirklichungspläne unzureichend
ist, da muss diese Selbstbestätigung auf andere Weise erfolgen. Doch
worauf soll sie sich nun stützen, wenn nicht auf den Wert, der der
Person an sich und losgelöst von jeder Gemeinschaft beigemessen wird? Es
geht darum, seinen Platz in der Welt zu erlangen, indem man nur als man
selbst und für seine Attribute begehrt wird. Es geht – letztendlich –
um Erotik. Erotik, Inszenierung und Begehrensproduktion als neue
Paradigmen des Alltagslebens, weil man nur als permanent erotisches
Wesen einen Platz in einer Welt voller Individualisten finden kann. Nur
wenn ich begehrenswert bin, werde ich wahrgenommen und kann mich ggf.
selbst verwirklichen.
Lulu erscheint uns als eine der vielleicht ersten berühmten
Theaterfiguren, die diese postmoderne Konstellation am eigenen Leibe
austrägt.
Dass Lulu womöglich weniger einen Angst oder Hoffnung
einflößenden weiblichen Archetypen abgibt, sondern eine neue,
postmoderne Verhaltensweise verkörpert, ist eine selten zu findende
Deutung dieser Figur. Doch genau hier setzt unser Interesse an Wedekinds
Doppeldrama an.
Regie: Eleonora Herder und Falk Rößler
Performer & Musiker: Maria-Isabel Hagen, Arne Köhler, Christoph Bovermann, Nick-Julian Lehmann, Fabian Passarelli, Falk Rößler
Dramaturgie: Michaela Stolte
Bühnenbild: Sabine Born
sehen möchtest, dann kontaktiere uns einfach und wir schicken die gerne einen Link zu.
“Das Stück hat nicht nur eine Besonderheit aufzuweisen, sondern ist gespickt mit einer Vielzahl von Ideen, Kreativität und technischem Einfühlungsvermögen für die erfolgreiche Umsetzung der aufwendigen Produktion. Ein Phänomen ist sicherlich der Ort des Schauspiels. Denn die Besucher befinden sich nicht im gleichen Raum mit den Akteuren. Sie sind noch nicht einmal im selben Haus.”
(„Theater- Thriller mit ungewöhnlicher Spielstätte“, Gießner Allgemein Zeitung, ,25.07.2011)
“Unter der Regie von Eleonora Herder und Falk Rößler ist ein Drama mit abwesender Protagonistin entstanden. Die Figur der Lulu verstehen sie als postmodernen Zustand einer Gesellschaft, die sich als Gemeinschaft aufgegeben hat. Es geht vielmehr darum, sich so zu inszenieren, dass die Blicke und Beurteilungen der anderen die eigene Persönlichkeit ausmachen. Der Blick des anderen definiert uns, die ständige Beobachtung stellt die Persönlichkeit erst her.”
(Fiona Sara Schmidt: „Voyeurismus als Theaterkonzept“, Gießner Zeitung, 25.07.2011)